STORIES FACHSTELLE OPFERHILFE
Gewalt hat viele Formen. Betroffene Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse. Jede Situation ist anders.
Josef 56
30 Jahre lang
Mein Arbeitstag als Polier auf der Baustelle einer neuen Überbauung begann wie jeder andere. Auch am Lift wurde gearbeitet. Warum ich an diesem verhängnisvollen Nachmittag durch die Absperrung des Liftschachts zwölf Meter in die Tiefe stürzte, weiss ich nicht. Erst im Spital bin ich wieder aufgewacht. Nun sagt man mir, ich sei selber schuld gewesen. Ich hätte mich fehlerhaft verhalten. Was habe ich nur falsch gemacht? Nach über 30 Jahren Erfahrung auf so vielen Baustellen? Das kann und will ich nicht glauben.
Dass ich mich bei der IV anmelden musste, weil ich mit dem kaputten Rücken, der verletzten Hüfte und den Konzentrationsschwierigkeiten nicht mehr arbeiten darf, muss ich lernen zu akzeptieren. Aber was ich nicht glauben kann und will, ist, dass ich selber schuld am Unfall bin. Doch genau das behaupten mein Chef und seine Versicherung. Das macht mich krank im Kopf. Der rechtliche Papierkram überfordert mich.
Asha 22
Zwangsheirat – nicht mit mir
So endeten die letzten Sommerferien zu Hause: Ich musste eine ganze Woche mit einem mir fremden jungen Mann verbringen. Meine Eltern hatten ihn als Ehemann für mich ausgesucht. Nach dieser Woche wusste ich: ich muss hier weg. Meine Eltern lieben mich nicht, sorgen sich nicht um mich, respektieren mich nicht. Ich fragte meinen Vater, was ihm wichtiger sei: Die Ehre oder ich, seine Tochter? Er sagte mir ins Gesicht, ihm sei die Ehre wichtiger. Zum Glück hatte ich meine Ausbildung schon abgeschlossen. Eigentlich möchte ich noch eine Weiterbildung besuchen. Aber das geht nun nicht mehr.
Die Polizei hat mir geholfen, dass ich meinen Reisepass von meinem Vater zurückbekomme. Jetzt bin ich weg, für meine Eltern nicht mehr erreichbar. Oder vielleicht doch? Finden sie heraus, wo ich mich aufhalte? Wann bin ich endlich sicher vor einem unfreien Leben mit einem mir fremden Mann?
Damiano 9
Alle haben geschrien
Lange Zeit habe ich mir nichts dabei gedacht, wenn Papa Mama beschimpfte. Das war normal für mich. Immer mal wieder hat er sie auch getreten und geschlagen. Vorgestern hat er sie am Hals gepackt und zugedrückt. Meine drei jüngeren Geschwister haben alle nur noch geschrien. Ich bin aus dem Haus gerannt, zu den Nachbarn. Die haben die Polizei gerufen.
Jetzt ist mein Papa weg. Und Mama weint nur noch. Sie macht mir Vorwürfe. Das habe ich nicht gewollt. Muss Papa jetzt ins Gefängnis? Werde ich ihn wiedersehen? Was wird aus uns?
Tobias 24
Liebe und Hass
Vor einigen Wochen ist mein Schulfreund Silvan bei mir eingezogen. Er hatte sich von seiner Freundin getrennt und wusste nicht, wohin er sonst gehen könnte. Sie will nicht akzeptieren, dass die Beziehung vorbei ist. Gestern hat sie über 200 Mal auf sein Handy angerufen. Sie schickt auch immer wieder Nachrichten per WhatsApp. Erst will sie reden, entschuldigt sich und möchte Silvan zurück haben. Im nächsten Moment schreibt sie, dass sie ihn über alles hasse und ihm das Leben zur Hölle machen werde. Wer kann denn so etwas verstehen?
Ich fürchte, sie könnte ihm etwas antun. Ich glaube, sie ist psychisch krank. Sie braucht professionelle Hilfe. Wir leben alle in derselben Kleinstadt. Wie kann ich Silvan helfen?
Kindergartenlehrperson 33
Das ist doch nicht normal!?
In der Puppenecke traf ich zwei Mädchen, die ihre Kleider ausgezogen hatten. Das eine Mädchen war mir schon zuvor durch nicht seinem Alter entsprechende Bewegungen aufgefallen. Woher hat sie das nur? Die Situation verunsichert mich, ich habe so etwas noch nie erlebt in einer Klasse. Geht es hier noch um Spiele? Soll ich das Kind auf meine Beobachtung hin ansprechen? Aber wie? Wie reagieren die anderen Kinder? Die Neugier der Kinder auf ihren Körper ist in diesem Alter doch nichts Besonderes, oder? Muss ich die Eltern informieren? Würde das die Situation für das Kind vielleicht verschlechtern?
Mir gehen viele Gedanken durch den Kopf. Ich bin verunsichert. Dabei sollte ich als Lehrperson doch klar kommen mit sowas!
Gabriela 25
Darüber wollen sie nicht reden
Als ich noch ein Kind war, hat der Partner meiner Mutter Sachen mit mir gemacht, die ich nicht wollte, die ich nicht verstand. Erst sehr viel später wurde mir bewusst, dass meine wiederholten Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken mit diesen sexuellen Übergriffen zu tun haben könnten. Meine Mutter, auch meine Schwester, glauben mir nicht. Sie wollen auch nicht darüber sprechen. Sie sagen, es sei doch schon so lange her, was ich denn noch wolle? Meine Mutter hat sich vor nicht allzu langer Zeit von diesem Mann getrennt. Über die Gründe spricht sie nicht.
Ich wünsche mir so sehr, dass mir jemand glaubt. Ich will, dass ihm jemand sagt, dass es nicht richtig war, was er mit mir gemacht hat. Er soll wissen, dass er damit Straftaten begangen hat. Er soll wissen, dass er dazu beigetragen hat, dass ich mich durch den Alltag kämpfe, zwei- bis vierwöchentlich zur Psychiaterin gehe und stets von Neuem am Versuch scheitere, ein normales Leben zu führen.
Thierry 16
Ich will nicht so werden
Seit ich mich erinnern kann, wurde ich von meinem Vater geschlagen. Nach der Scheidung meiner Eltern wenigstens nur noch jedes zweite Wochenende. Meine beiden jüngeren Schwestern konnte ich jeweils schützen, indem ich mich vor sie stellte, wenn der Vater wieder zornig wurde. Zum Glück wuchs ich weiter, wurde so gross wie er, ging ins Krafttraining und versuchte, die Schläge abzuwehren. Es gelang mir nicht immer: der Vater ist so stark, wenn er wütend ist. Dann habe ich beschlossen, nicht mehr zu ihm zu gehen.
Jetzt tyrannisiert er meine Mutter am Telefon, weil ich nicht mehr zu ihm komme. Meine Schwestern besuchen ihn weiterhin. Sie sind schutzlos. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihnen nicht mehr helfen kann. Ich kann aber nicht zu ihm gehen, sonst schlage ich irgendwann zurück. Ich will nicht so werden wie er.
Emma 42
Keiner will mehr zahlen
Vor etwas mehr als zwei Jahren war ich auf dem Heimweg von der Arbeit, mit dem Velo, im Kreisverkehr. Ein strahlender Sommertag. Dann ein E-Bike-Fahrer von rechts. Er sah mich zu spät und konnte nicht mehr anhalten. Die Unfallversicherung zahlt nicht mehr. Mein Leiden stehe nicht mehr mit dem Unfall in Zusammenhang. Die Unfallversicherung, die für meinen Lohnausfall aufgekommen ist, wird ihre Leistungen demnächst einstellen. Die Invalidenversicherung orientiert sich am ablehnenden Entscheid der Unfallversicherung. Die Arbeitslosenversicherung lehnt den Anspruch ab, so lange ich arbeitsunfähig bin. Die Haftpflichtversicherung des E-Bike-Fahrers zahlt den Lebensunterhalt meiner Familie nicht. Zwar verstehen der Hausarzt und der Neurologe, dass ich mit den körperlichen Beschwerden nicht arbeiten kann, aber zahlen will keiner.
Mein Mann sucht Arbeit. Aber bis heute hat er, nach mehreren Jahren zu Hause bei den Kindern, noch keine Stelle gefunden. Müssen wir das Haus verkaufen? Müssen wir gar Sozialhilfe beantragen? Was sagen die Nachbarn? Was sagen unsere Angehörigen? Wie kommen wir da jemals wieder raus?